Auch an Matsuyama ist Chris Broad schuld – also der mit den Japan-Videos auf YouTube. Hat er doch über ebendiese Stadt berichtet und dabei einen Wasserhahn erwähnt, aus dem Orangensaft fließt. Zu finden wäre er auf dem Gelände der Burg, die auf dem Berg in der Mitte der Stadt thront, meinte er – und zapfte sich einen Becher Saft.
Marvin war sofort Feuer und Flamme und wollte unbedingt, dass wir diesen Orangensaft-Hahn in die Planung mit aufnehmen. Ich hatte nichts dagegen – fügt der Ort sich doch prima in unsere Route ein, da er auch auf Shikoku liegt, der Insel, auf der unser Radfahrabenteuer endet. Allerdings habe ich mir von dieser Stadt nicht allzu viel erwartet, fand sie irgendwie farblos und nichtssagend. Aber ein Ziel darf ja auch mal langweilig sein, dachte ich mir. Wie sehr frau sich doch täuschen kann… doch alles schön der Reihe nach:
Nur einen Katzensprung weit weg
Schon etwas weniger rot als gestern erwachen wir ausgeruht in unserem Hotel. Nach dem üblichen Morgenprozedere stehen wir schon recht bald am Gleis nach Matsuyama. Reservieren brauchen wir diesmal nichts, denn es fährt nur ein JR-Regionalzug dorthin.
Japan besteht aus vier Hauptinseln: Honshu – wo wir bisher unterwegs waren -, Hokkaido im Norden, Kyushu im Süden und Shikoku – da sind wir jetzt. Shikoku ist mit Abstand die kleinste der Vier. Und die einzige, die noch nicht an das Shinkansen-Netz angeschlossen ist. Auch im innerstädtischen Nahverkehr gehen die Bewohner einen Sonderweg – doch dazu später mehr.
Die Strecke von Imabari nach Matsuyama ist auch ohne Schnellzug so kurz, dass wir bei der Planung unserer Reise überlegt hatten, nach der Radtour gleich dorthin weiterzureisen und die Zwischenübernachtung in Imabari zu streichen. Doch da wir damals noch unsicher waren, wie gut wir hier vorankommen, haben wir lieber die jetzige Variante gewählt. Worüber ich im Nachhinein auch dankbar bin. Obwohl die Zugfahrt nach Matsuyama nur ein knappe Stunde dauert, wäre ich gestern schon ziemlich gestresst gewesen dadurch.
Ein eigenwilliges Verkehrssystem
So aber kommen wir entspannt noch vor Mittag in Matsuyama an. Unser Hotel liegt nur 1,5 km vom Bahnhof entfernt, was wir problemlos auch mit Gepäck zu Fuß gehen können. Das ist Absicht, denn wir haben bei unserer Recherche herausgefunden, dass es in Matsuyama weder eine U-Bahn noch ein anderes uns inzwischen vertrautes öffentliches Fortbewegungsmittel gibt. Vielmehr haben sie hier ein eigenes Straßenbahnnetz, das alles irgendwie anders macht.
Zum Beispiel kann man anscheinend nur bar bezahlen. Das Tarifsystem ist simpel: Innerhalb der Stadt kostet jede Fahrt dasselbe (260 Yen pro Person, knapp 1,60 Euro, Kinder die Hälfte), unabhängig von der Länge der Strecke. Das Geld wird beim Aussteigen abgezählt in einen transparenten Kasten geworfen, der neben dem Ausgang befestigt ist. Diese wenigen Infos haben wir über Google herausfinden können. Wie das Ganze jedoch genau abläuft, ist uns noch ein Rätsel.
Während unseres Marsches zum Hotel sehen wir einige dieser Straßenbahnen – die scheinbar immer nur aus einem einzigen Wagon bestehen – herumfahren. Oder besser gesagt: herumrumpeln, denn die Geräuschkulisse, die sie erzeugen, ist bemerkenswert.
Hier ist es anders
Trotz dieser etwas nervös machenden Eigenart ist uns die Stadt auf Anhieb sympathisch. Wir sind ja nun wirklich noch keine Japan-Experten, aber uns ist gestern in Imabari schon aufgefallen, dass dort ein etwas anderer Rhythmus herrscht. Die Menschen gehen ein klein bisschen langsamer, die Straßen sind ein klein wenig breiter, es gibt weniger Neon-Reklametafeln und deutlich weniger Lautsprecherdurch- und -ansagen.
Das ist hier in Matsuyama genauso. Mir gefällt das ziemlich gut, muss ich zugeben. Nicht, dass unsere bisherigen Ziele irgendwie unangenehm waren, im Gegenteil. Aber hier ist es noch mal ein Stück angenehmer – was ich nicht erwartet hätte.
Unser Hotel liegt direkt neben dem parkähnlichen Gelände, dass die Burg von Matsuyama umgibt. Wir haben ein Zimmer mit Burgblick gebucht (für einen geringen Aufpreis) und sind gespannt, ob wir den auch haben. Doch noch müssen wir uns etwas gedulden, denn der Check-In ist nicht vor 14 Uhr möglich und jetzt ist es gerade mal Mittag. Wir können jedoch hotelüblich zumindest unser großes Gepäck in der Lobby zwischenlagern.
Danach geht es flugs zu dem Bagel-Shop, den wir beim Herkommen um die Ecke voller Begeisterung entdeckt haben. Dort gönnen wir uns zwei fette warme Bagels, gefüllt mit Ziegenkäse, Walnüssen, viel Gemüse und leckerer Soße. Sie schmecken fantastisch – und es tut gut, mal wieder etwas festeres Brot zwischen den Zähnen zu haben.
Die Riesenspinne und der Hahn
Anschließend begeben wir uns auf unsere eigentliche Quest: Dem Anstieg zur Burg und der Suche nach dem heiligen Orangensaft-Gral … äh … -Hahn!
Es führen mehrere gepflasterte Fußwege durch den dschungelähnlichen Wald am Hang auf den Burgberg. An einer besonders hübschen Stelle bin ich versucht, in einen Trampelpfad abzubiegen, entdecke jedoch gerade noch rechtzeitig (ehe ich direkt hineinrenne) ein riesengroßes Spinnennetz, dass ungelogen eine Spannweite von mindestens zwei Metern hat und wie ein gruseliger Zaun den Weg versperrt.
Ich mache einen Satz rückwärts und suche hektisch nach der dazugehörigen Spinne. Wenn das Netz schon so groß ist, wie enorm mag dann erst seine Erbauerin sein? Nach wenigen Sekunden entdecke ich sie: ein gelb-schwarz gestreiftes, ungefähr handtellergroßes (mit Beinen) und ungeheuer giftig aussehendes Exemplar.
Weniger gigantisch, als ich befürchtet habe, aber für meinen Geschmack immer noch viel zu groß. Ich ziehe mich sicherheitshalber in die Mitte des gepflasterten Weges zurück. Auf dem restlichen Marsch nach oben sehen wir rechts und links zwischen den Bäumen und Büschen noch einige weitere solcher riesigen Netze samt Bewohnerinnen. Diese Entdeckung heilt mich nachhaltig von der Idee, während unserer Reise Abstecher in die unberührte Natur zu machen. Soll sie doch unberührt bleiben, zumindest von mir!
[Anmerkung der Autorin: Erst in München kam ich auf die Idee, diese Spinnenart mal nachzuschlagen. Und siehe da, sie ist harmlos. Auch wenn sie so monströs aussieht. Allerdings hätte mich diese Information in Japan trotzdem nicht dazu verleitet, fröhlich durch ihre Netze zu laufen …]
Der Burghof stellt sich als wunderschönes, weitläufiges Gelände heraus, mit Sitzgelegenheiten, eindrucksvoller Bepflanzung und einigen Imbissmöglichkeiten. Zuallererst suchen wir natürlich nach dem Orangensaft-Hahn und entdecken ihn auch recht bald.
Wie so oft, fällt die Begegnung in Natura etwas ernüchternd aus, entpuppt er sich doch als simpler Kasten, in dem sich ein Fass mit Saft versteckt. Bei dem danebenstehenden Verkäufer kann man einen Plastikbecher kaufen, den es in drei verschiedenen Größen gibt (Marvin wählt die mittlere) und den man dann genau einmal selbst am Hahn befüllen darf. Schon recht witzig, aber nicht ganz so spektakulär, wie wir gehofft hatten. Noch dazu schmeckt der Saft zwar gut, aber wir haben hier schon deutlich bessere Sorten bekommen.
Eine wunderschöne Burg – innen wie außen
Marvin ist aber nicht allzu enttäuscht, denn die Umgebung hier oben ist auch ohne den Zapfhahn einfach wunderschön. Wir besichtigen das Innere der Burg, was 500 Yen Eintritt kostet, sich aber auf alle Fälle lohnt.
Im Eingangsbereich muss man seine Schuhe ausziehen. Als Ersatz werden dann Schlappen angeboten, aber da diese für uns erfahrungsgemäß viel zu eng sind, verzichten wir darauf und besichtigen die Burg barfuß. Auch wenn wir uns dabei ein wenig blöd vorkommen. Trotzdem habe ich lieber einen festen Stand, insbesondere da hier die (Holz-)Treppen zwischen den Stockwerken enorm steil sind (um eindringenden Feinden ein Vorrücken zu erschweren). Das Innere der Burg ist spannend und die Aussicht aus den oberen Stockwerken grandios.
Anschließend drehen wir eine weitere Runde durch den Burghof, ehe wir uns auf der anderen Seite des Berges an den Abstieg machen. Hier gibt es auch eine Seilbahn für all jene, die den Weg nicht selbst bewältigen wollen oder können.
Eine seltsame Begegnung
Da noch etwas Zeit ist bis 14 Uhr, erkunden wir auch gleich die nähere Umgebung. Sie stellt sich als lauschige, sehr freundlich wirkende Einkaufsgegend heraus, mit kleinen Lädchen, diversen Restaurants und Imbissen und einer geräumigen Shopping-Arcade.
Innerhalb dieser Arcade kommt uns ein eigentümlicher Umzug entgegen: Eine Art bunte Sänfte wird von gleichfarbig-prächtig gekleideten jungen Männern getragen, während ein weiterer junger Mann auf ihr steht und die Träger anfeuert. Verblüfft gucken wir dem Spektakel hinterher. Was war das denn? Da wir aber hier in Japan schon so einige Verrücktheiten gesehen haben, denken wir uns nicht viel dabei.
Es ist Waschtag!
Kurz darauf checken wir im Hotel ein. Unser Zimmer hat tatsächlich eine spektakuläre Aussicht auf den Burgberg. Super! Und es gibt sogar eine richtige Kaffeemaschine.
Wir gönnen uns jeder eine Tasse, danach nutzen wir erst einmal die hoteleigenen Waschmaschinen für eine dringend nötige Auffrischung unserer Reisegarderobe. Während die Maschinen im ersten Stock des Hotels rumpeln, planen wir oben auf unserem Zimmer den restlichen Tagesablauf.
Matsuyama ist – neben seiner Burg – auch noch für den ältesten aller japanischen Onsen bekannt, dem Dogo Onsen. Hineingehen wollen wir zwar nicht (hier herrscht, wie bei den meisten traditionellen Onsen, strikte Geschlechtertrennung), aber das Gebiet drumherum wollen wir uns schon ansehen. Also packen wir unsere Tagesrucksäcke und machen uns auf dem Weg, sobald unsere Wäsche fertig ist.
Für einen Fußmarsch liegt das Viertel zu weit entfernt, also kommen wir nun um die Benutzung dieser seltsamen Straßenbahnen nicht herum. Und siehe da, auch das ist nicht so schwierig wie befürchtet. Man steigt ein, fährt bis zum Ziel und wirft beim Aussteigen das Geld in den Kasten. Das war’s.
Abendstimmung im Onsen-Viertel
Beruhigt, diesen Teil hinter uns gebracht zu haben, hüpfen wir aus der Bahn. Die Sonne geht gerade unter, was zu einer Lichtstimmung führt, die dieses Viertel noch bezaubernder macht. Die kleinen Gassen, diverse Einkaufspassagen, der (wenn auch teilweise – wegen einer andauernden Renovierung – unter Gerüsten versteckte) Dogo-Onsen, in Yukata gekleidete Badegäste, der lebhafte, aber gleichzeitig entspannte Flair, all das zusammen ergibt ein wunderbares Bild.
Ich werde von Minute zu Minute begeisterter. So viel Schönes hätte ich hier nun wirklich nicht vermutet und ich bin sehr froh, dass Marvins Lust auf Orangensaft aus dem Wasserhahn uns hierher geführt hat.
Erntedank auf Japanisch
Inmitten all dieser Eindrücke begegnen wir erneut gleich mehreren dieser Jungmänner-Gruppen samt Sänften. Diesmal forschen wir nach, um was es sich denn nun handelt, und siehe da, wir sind in eine Art japanisches Erntedankfest geraten, dem sogenannten „Hachiawase“. Die Sänften sind eigentlich Schreine – und wenn so eine Gruppe mit dem rhythmischen Sprechgesang an einem vorbeizieht, bekommt man richtig Gänsehaut. Aber seht – und hört – selbst:
Die Gruppen begeben sich als Höhepunkt dieses Festes in einen rituellen Wettkampf, bei dem sie die Schreine gegeneinander rammen. Das soll ein ziemliches Spektakel sein.
Wir können allerdings nicht genau rausfinden, wo und wann dieser Wettkampf stattfindet. Und sind im Grunde auch schon zu müde, um noch länger zu bleiben. Also schnappen wir uns die nächsten Straßenbahn zurück ins Hotel und lassen den Abend dort gemütlich ausklingen.
Morgen verlassen wir Shikoku wieder. Eigentlich schade. Ich hatte mir nichts von dieser Insel und dieser Stadt erwartet – und so unglaublich viel bekommen. Falls wir wieder mal nach Japan kommen, sollten wir hier unbedingt mehr Zeit einplanen!
Überblick
Datum: Mittwoch, 05. Oktober 2023
Unterkunft: MyStays Hotel – Matsuyama